Ingo Mickan

Übergehen zum Anderen des Seins

Zum Denken von Emmanuel Lévinas

 

Die folgenden Zeilen sind 1997/98 für ein interdisziplinäres Seminar für Pädagogen und Religionsphilosophen, in welchem unter anderem auf das Denken des bedeutenden französischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1905-1995) eingegangen wurde, geschrieben worden. Sie waren vor allem gedacht für Nichtphilosophierende (im akademisch strengen Sinne) als eine einführende Skizzierung zentraler Problemfelder des lévinasschen Denkens, weniger als Einführung in Leben und Werk. Daraus erklärt sich auch die auf thesenhafte Vereinfachung, mitunter auf Zuspitzung philosophischer Grundfragen zielende Sprache. Der Text ist vor allem Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Casper (Freiburg i. Br.), einem der damaligen Seminarleiter, verpflichtet.

Ich selber bin eigentlich kein Lévinas-„Anhänger“, aber sein Denken stellt für mich eine wesentliche Irritation klassischer Denkmuster dar, die außerordentlich fruchtbar sein kann. Nach seiner Philosophie dürfte es bei ihm auch gar keine Anhängerschaft im traditionellen Sinne mehr geben, wo der Eine neben dem Anderen gleichsam marschiert. Hier kann es nur den fortgesetzten Versuch einer Entsprechung in Form wiederholter verstehender Annäherungen geben, in denen sich dieses Denken in seiner ununterbrochenen Insistenz auf einer im „Grund“ unseres Existierens liegenden ursprünglichen Verantwortung für den Anderen auch nicht einfach „aneignen“ lässt, sondern wesenhaft be-fremdend bleibt.

 

(I)

Philosophische Forschung bewegt sich nicht allein in von unserer alltäglichen Lebenspraxis gänzlich abgeschnittenen abstrakten und allgemeinen Sphären. Vielmehr erfolgt in ihr die grundsätzliche Bearbeitung eines von keiner anderen Wissenschaft thematisierbaren elementaren Forschungsfeldes, in der die zumeist verdeckten Wesensfundamente des alltäglichen Lebens freigelegt werden, um sie auch für eine Verwandlung unseres Menschsseins innerhalb der Lebenspraxis fruchtbar werden zu lassen.

Zu den Grundfragen der Philosophie gehört seit ältester Zeit die Wesensfrage nach der Wahrheit. Mit dieser Frage ist allerdings ein fundamentales Problem verbunden: Wahrheit darf stets nur eine sein. Philosophie trachtet nach dem unbedingten verum et unum. Wenn Wahrheit aber nur eine sein soll, wie kann es dann aber das Eine und zumal das Andere geben? Und inwiefern kann es den Einen und mit ihm den Anderen geben? Muss nicht unter der Herrschaft des Einheitspostulats die Andersheit des Anderen nur als beunruhigendes und störendes Fremdelement erscheinen, das auszugrenzen und zu eliminieren ist?

Die Philosophie wird zu solchen Fragen gerade nach dem Deutschen Idealismus gedrängt, dessen Selbstverständnis es gewesen ist, dass mit ihm die Traditionen des europäischen Denkens durch eine einheitlich in sich abgeschlossene Systematik zur Vollendung gelangt sind. Auch in den bei Karl Marx entfalteten Grundfragen nach Geschichte und Gesellschaft wird mit der ontologischen Überlieferung des Fragens nach dem einen, einzigen Sein keineswegs gebrochen. In bewusstem Anschluss an den überlieferten Einheitsgedanken führt Marx diese Tradition vielmehr fort und sucht sie zu einer umfassenden globalen Realisierung voranzutreiben. Sind aber Geschichte und Gesellschaft überhaupt einheitliche Phänomene? Dürfen wir ihre sich immer wieder meldende Multiplizität systematisch einebnen, wie das in den einheitstotalitaristischen Theorieentwürfen von Hegel und Marx geschehen ist? Kann und muss es überhaupt einen vollständig widerspruchsfreien, einheitlichen und endgültigen Sinnentwurf geben, in dessen Realisierung alles Multiple und Heterogene nivelliert und ausgetilgt würde? Muss die Umsetzung eines solchen Sinnentwurfs, der die lebendige Vielgestaltigkeit der menschlichen Existenz in vereinheitlichende Schemata presst, am Ende nicht das ursprüngliche Wesen des Menschen verfehlen und deformieren? Solche Fragen bestimmen die Landschaft, aus der sich das Denken von Emmanuel Lévinas entwickelt.

 

(II)

Die europäische onto-theo-logische Tradition (1) sucht den Gegensatz zwischen dem Einen und dem Vielen, welches wesenhaft anders als das Eine ist, dergestalt zu synthetisieren, dass von ältester Zeit an dem Einen der Vorrang vor dem Vielen zugesprochen wird. Das Viele muss im Einen, das Andere im Selben aufgelöst werden. So wird Gott gedacht als das hen kai pan, als Eines und Alles, aus welchem das vielfältige Seiende seine Herkunft hat und auf das alles Geschaffene einheitlich ausgerichtet ist. Der Mensch kommt unter dem vielen, auf das Eine zuströmenden Seienden als dasjenige Seiende vor, das durch Vernunft (gr. nus, logos) von allem übrigen Seienden unterschieden ist. Die Tradition fasst ihn als zoon logon echon (animal rationale), als durch Sprache, Vernunft und durch Totalitätsverständnis ausgezeichnetes Lebewesen, welches das Ganze denkend zu erfassen und zu durchdringen vermag, daher aber auch versucht ist, es zu beherrschen.

Die Vernunft ist in sich durch ein wesenhaftes Streben nach Macht bestimmt und trachtet nach steter Erweiterung ihrer Herrschaft über das Ganze des Seienden, dessen Beherrschung dem Menschen durch das zunehmende verstehende Eindringen in seine Gesetzlichkeiten ermöglicht ist. Die Macht der Vernunft über das Ganze des Seienden erwächst aus umfassendem Wissen. So kommt etwa in der ruhelosen Suche der positiven Wissenschaften nach dem einen, einzigen Ansatz, durch den alles erklärt werden kann, im Entwurf eines künftigen Zusammenschlusses aller positiv-wissenschaftlichen Einzelerkenntnisse zu einer alles Seiende erfassenden Universalerkenntnis deutlich der Totalitätsanspruch der Vernunft zum Ausdruck. Dieser Anspruch steht in der Tradition des die abendländische Philosophie seit Parmenides durchherrschenden Gedankens des einen, ungeteilten Seins, in welchem alle Vielheit und Andersheit aufgelöst ist. Innerhalb der philosophischen Tradition strebt alles auf Einheit, Einzigkeit und Selbigkeit zu, sie unterliegt gleichsam einem Zwang, auf das Eine und Einzige zugehen zu müssen. Die ontotheologische Tradition sucht ein utopisches Programm zu verwirklichen, dessen Ziel die Auflösung aller Widersprüche, hierin aber die Austilgung alles Andersartigen umwillen der Errichtung umfassender, schrankenloser Macht ist. Die innerhalb der metaphysischen Tradition intendierte totale Verfügbarkeit über das Ganze des Seienden würde den Menschen zuletzt an jene Stelle versetzen, welche traditionell Gott zugesprochen wurde. Das Ziel des europäischen ontotheologischen Programms kann daher darin gesehen werden, den Menschen zuletzt die Stelle Gottes einnehmen zu lassen.

Eine umfassende Realisierung des einheitstotalitaristischen Sinnentwurfs würde eine zunehmende Kontrolle und Verdrängung des Anderen in seiner Andersheit einschließen und die menschliche Zivilisation zu einem Zwangs- und Unterdrückungssystem machen, in dem eine freie Entfaltung des Menschenwesens unmöglich würde. Allein in der zulassenden Begegnung mit dem Anderen, der stets anders denkt, anders wahrnimmt, anderes weiß und uns unausgesetzt in seinem Anderssein infrage stellt, kann sich zeigen, dass wir keineswegs absolut über das Sein verfügen können und dass wir dies auch nicht müssen.

 

(III)

Was verändert sich im Denken von René Descartes gegenüber dem bis dahin überlieferten ontotheologischen Modell? Descartes war derjenige Denker, der mit seiner Metaphysik des Selbstbewusstseins und der darin vollzogenen Bestimmung der Wahrheit als Selbstgewissheit der Subjektivität die heute in allen modernen Lebensbereichen mittelbar zum Ausdruck kommende neuzeitliche Philosophie begründet hat (2). Mit ihm geschieht eine entscheidende Umwälzung im Selbstverständnis des Menschen, der von nun an seine Gewichtung innerhalb der Ordnung des Seienden verändert. Das Selbstbewusstsein in der Struktur des ego cogito me cogitare cogitatum wird zum fundamentum inconcussum, zum unerschütterlichen Fundament für die menschliche Selbst- und Welterkenntnis. Die Selbstgewissheit (certitudo) des selbstbewussten Subjekts wird zum entscheidenden Wahrheitsgrund für die Erste Philosophie (Metaphysik), auf dem ein Universum umfassenden Wissens errichtet werden soll. Nicht mehr Gott ist, wie noch im Mittelalter, der Ausgang des Philosophierens, sondern vielmehr der Mensch. Mit dieser revolutionierenden Neugründung der Philosophie weicht Descartes jedoch nicht von der grundsätzlichen Bewegungsrichtung der abendländischen Tradition ab. Vielmehr ist er mit seiner Idee, auf dem Fundament der unerschütterlichen Selbstgewissheit des Subjekts eine zweifelsfreie, auf Universalität und Totalität zielende Welterkenntnis leisten zu wollen, nur einer der konsequentesten Vollstrecker des im antiken Griechenland in Gang gesetzten ontotheologischen Programms.

Die von Descartes begründete Metaphysik des Selbstbewusstseins, die sich im komplexen Geschichtsgang der neuzeitlichen Philosophie bis hin zu Hegels Bestimmung der Unendlichkeit und Absolutheit der Subjektivität steigern wird, sucht die Polarität zwischen dem Einen und dem Anderen in eine höhere Einheit und Totalität aufzulösen. Sie betreibt in solchen Synthetisierungsversuchen aber gerade die Ausgrenzung des Anderen als solchen, der in seinem Anderssein jegliches, zumal ein bloß synthetisierendes einheitstotalitaristisches Denken in Frage stellt. So wird im Gefolge des cartesischen Totalitätsentwurfs und seiner Unterscheidung von res extensa und res cogitans die zunehmende Fixierung der Spaltung von Subjekt und Objekt, von Vernunft und Wirklichkeit, von Mensch und Welt, daher auch der Spaltung von Seele und Leib betrieben. Unsere wesenhafte Endlichkeit aber, die sich gerade in Sinnlichkeit und Leiblichkeit bekundet, irritiert unausgesetzt die Einheitsdoktrin, welche diese Momente diskriminiert. Hier wird deutlich, dass es sich bei der Idee einer totalen Synthese aller Widersprüche um eine Utopie handelt, die den grundlegenden, nicht überspringbaren Dimensionen unserer Endlichkeit, unserer Zeitlichkeit und Sterblichkeit, damit aber gerade auch unserer Leiblichkeit und Verwundbarkeit, nicht gerecht wird, sondern diese vielmehr verkürzt und deformiert. Die absurde Konsequenz einer Verwirklichung des einheitstotalitaristischen Entwurfs wäre eine Auflösung unserer menschlichen Identität, die durch Sterblichkeit, Leiblichkeit und Andersheit bedingt bleibt. Erst im Sicheinlassen auf die in der Tradition ausgegrenzten Wesensmomente kann sich zeigen, dass es keinerlei Notwendigkeit gibt, dasjenige, was anders als die Einheit ist, umwillen schrankenloser Macht zu diskreditieren, sondern dass es vielmehr nötig wird, sich auf die Andersheit des Anderen einzulassen.

 

(IV)

Der Begriff des Anderen nach Lévinas meint nicht lediglich das traditionelle aliquid, nicht das bloße Verschiedene (gr. heteron), das innerhalb traditionellen Totalitätsdenkens und klassischer Identitätssysteme – oft genug nur als problematisches Fremdelement – denkbar ist. Das sächlich Andere und der persönliche Andere müssen, und dies ist innerhalb der klassischen Metaphysik keineswegs tiefgreifend genug geschehen, grundsätzlich unterschieden werden. Die Begegnung mit dem Anderen meint eine ganz einzigartige Beziehung, deren eigentliche Bedeutung und Tragweite innerhalb der philosophischen Tradition von Parmenides bis Heidegger immer übersehen und übersprungen wurde. Im Sicheinlassen auf den Anderen als solchen werden die Schutzmechanismen des Einheitstotalitarismus, welche die Andersheit des Anderen nivellieren, gebrochen. Der enge Bezirk der im abstrakten Ich=Ich erstarrten Selbstidentität des Subjekts wird zugunsten einer weiter gefassten und ursprünglicheren Identitätsbestimmung verlassen. Während die Einheitsvorstellung immer eine Projektion einschließen muss, in welcher der Mensch sich aufgrund seines Totalitätsverständnisses an die Stelle des Einen versetzt und, jegliche Andersheit verdrängend, autoritativ von dort her spricht, ist ein Zulassen des Anderen dagegen nur möglich in Haltungen des Respektierens, des Hörens und Wartens. Der Zugang zum Anderen öffnet sich nicht in einer aktiven, sondern einzig in einer wesenhaft passiven Haltung, einer ursprünglichen Passivität, wobei dieser Passivitätsbegriff jedoch nicht einfach mit dem derivativen vorphilosophisch-alltäglichen Begriff der Passivität gleichzusetzen ist.

Die den Zugang zum Anderen eröffnenden passiven Haltungen des Zulassens und Respektierens, des Hörens und Wartens können als Weisen der Zeitigung der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins gefasst werden (3). Der Mensch vollzieht sein Dasein, indem er seine Zeit ist, sich zeitigt; das „Ich bin“, das „Ich lebe“ vollzieht sich existenziell als ein Sichzeitigen. Die Zeitigung ist wesenhaft endlich, was sich etwa in der Endlichkeit der Wahl von Existenzmöglichkeiten bekundet. Die endliche Zeitigung des Menschen als leibliches, sterbliches Seiendes ist Dasein zum Tode als „Aufschub des Todes“ (Lévinas). Endliche Zeitigung, Sterblichkeit, aber damit einhergehend auch Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Verwundbarkeit charakterisieren die wesenhafte Endlichkeit des Menschen, die ihm einen Spielraum endlicher Freiheit lässt, in der sowohl das eigene Selbstsein als auch die Offenheit für den Anderen ermöglicht sind.

Das Sein des Menschen vollzieht sich nach Lévinas nicht nur als das Sichselbstzeitigen eines Seienden, dem es in seinem Sein immer nur um sein Sein geht, sondern primär als Sichzeitigen durch den Anderen. In der Begegnung mit dem Anderen geschieht eine Wesenskonfrontation mit der Zeit des Anderen, die meine Zeit gleichsam stört und irritiert. Das Verhältnis meiner Zeitlichkeit zu derjenigen des Anderen meint kein synchrones, sondern ein diachrones Verhältnis. Die ursprüngliche Beziehung zum Anderen ist kein bloß innerzeitliches Phänomen, sondern die zeitigende Zeitlichkeit selbst. Im Gedanken der ständigen und untilgbaren Störung meiner Zeit durch den Anderen entwickelt Lévinas ein neues philosophisches Zeitverständnis. Mit der Vertiefung aller überkommenen, auch der ursprünglicher ansetzenden Zeitbestimmungen Heideggers, zerbricht zugleich das tradierte Verständnis von Sein, das den Bezug zum Anderen immer nur als einen synchronen fassen kann. Im Denken der Diachronie zerbricht die klassische Fixierung auf Substanzialität und Seinstotalität: In ihm wird das Philosophieren nicht mehr von der Totalität des einen Seins her bestimmt, sondern wandelt sich in das Denken des Anders als Sein oder Jenseits des Seins.

Der Bezug zum Anderen ist von einer ursprünglichen Verantwortung gekennzeichnet, die in fundamentalen ethischen Verpflichtungen zum Ausdruck kommt, wie etwa: Ich darf den Anderen nicht töten, ich darf den Anderen in seinem Sterben nicht allein lassen. Hierher gehört auch der lévinassche Begriff der Geisel. Danach bürgt meine Existenz wesenhaft für den Anderen. Diese ursprüngliche Geiselschaft, von der Lévinas einmal gesagt hat, sie sei „vielleicht nur ein harter Name für Liebe“, meint nicht Altruismus oder selbstdestruktives Sichaufopfern, da ich in der Situation der Verantwortung dem Anderen gerade auch meinen natürlichen Egoismus schuldig bin. Im Gedanken der Geiselschaft, der Erfahrung, dem Anderen unbedingt verpflichtet zu sein, ihm helfen zu müssen, ohne selbst noch einmal Macht ausüben zu können, liegt eine fundamentale Umkehrung der traditionellen, von Substanzialität und Subjektivität bestimmten Machtstrukturen. Mit dem Gedanken eines steten Verantwortlichseins, einer unbedingten Verpflichtung ist nicht nur ein guter Wille im Sinne Kants, nicht ein synchrones Mitleiden und auch kein freiwilliges Sichausliefern an den Anderen gemeint. Vielmehr werden wir nach Lévinas gerade wider Willen und vor aller Verfügbarkeit als Geisel genommen. Lévinas' Gedanke ist insofern radikal, als er gerade die Unverfügbarkeit der prinzipiellen Geiselschaft betont. Wenn die Geisel nach dem geläufigen Geiselbegriff zugunsten eines Dritten genommen wird, kann dies auch auf den Geiselbegriff Lévinas’ angewandt werden: Ziel der ursprünglichen Geiselschaft ist weder eine Selbstaufgabe für den Anderen noch die bloße Befriedigung meiner Selbstsucht, sondern ein Drittes, letztlich eine menschheitliche Perspektive.

Die den Bezug zum Anderen bestimmende Grundhaltung der Passivität ist ausdrückbar im Akkusativ, das traditionell ontologisch bestimmte Ich wandelt sich zu einem ethischen Sich. Der Gedanke des ethischen Sich führt zur Neubestimmung von menschlicher Identität, deren Wesen sich nun primär aus dem Moment der ursprünglichen, unverfügbaren Verantwortung für den Anderen ergibt. Das Identitätsverständnis von Lévinas wird nicht mehr von der Dimension eines Ich=Ich, sondern von vornherein vom Anderen her bestimmt, der mich allererst in mein Eigenes einsetzt (4).

Im Denken von Lévinas’ stellt die ethische Dimension, das durch ursprüngliche Verantwortung bestimmte Verhältnis zum Anderen, nicht nur irgendein partielles Untersuchungsfeld dar, das eine Philosophie neben anderen Feldern in ihre Systematik einordnen könnte. Vielmehr geht das Ethische wesenhaft allen philosophisch thematisierbaren Bereichen voraus. Die traditionelle Vorrangstellung von Ontologie wird verabschiedet und Ethik wird Erste Philosophie.

In der ursprünglichen Begegnung mit dem Anderen als Grunderfahrung des Durchbrechens meiner Synchronie, im identitätsstiftenden diachronen Sichereignen als Einsetzen in die Verantwortung für den Anderen geschieht der Einfall Gottes in meine Erfahrung. Diese Gotteserfahrung erfolgt unabhängig von Zeit, sie meint die in der Verantwortung liegende Erfahrung einer Anfangs- und Endlosigkeit, einer unvordenklichen Gewesenheit. Sie ist wesenhaft unverfügbar, primär Widerfahrnis und Passivität. Im Einfall Gottes in unser Denken als Erfahrung einer Vergangenheit, die älter als alle Erinnerung ist, erblickt Lévinas das Moment der Unendlichkeit.

Wir können nicht konkret für alle Geisel sein, sind es aber prinzipiell und müssen darunter leiden, dass wir nicht für alle Verantwortung tragen können, sondern die Pflicht haben, auszuwählen. Mit diesem Auswählenmüssen ist das grundsätzliche Problem der Endlichkeit unseres Existierens angesprochen. Zur Verantwortung für den Anderen gehört gerade auch, uns schützen zu müssen, aber eben nicht im Sinne einer bloß verhärtenden Selbstpanzerung, die vor der Möglichkeit, die Spannung der Beziehung zum Anderen zuzulassen und auszuhalten, ausweicht und sich in Egozentrik und Isolation flüchtet. Das Sichschützen muss vielmehr in seinem Doppelaspekt des Bewahrens sowohl des eigenen Selbstseins als auch der ursprünglichen Verantwortung für den Anderen verstanden werden. Hierbei wird aber gerade die Endlichkeit des Menschenwesens offenbar. Im Feld der Beziehung zum Anderen kann es keine Befriedigung eines unendlichen Anspruchs geben, sondern vielmehr gilt es das Sicheinlassen in die uns mit Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Sterblichkeit überantwortete Endlichkeit aller Wesensstrukturen der menschlichen Existenz.

 

 

 

 

Anmerkungen

(1) Der Begriff der Onto-theo-logie geht auf Immanuel Kant zurück. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 632, B 660. Besondere Bedeutung erlangte er allerdings bei Martin Heidegger, der ihn zur Wesenskennzeichnung der bisherigen europäischen philosophischen Tradition verwendete. Vgl. Martin Heidegger: Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik. In: M. Heidegger: Identität und Differenz. Stuttgart 1996. S. 31-67.

(2) Vgl. René Descartes, Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt. Stuttgart 1986 (= RUB 2888).

(3) Zum Phänomen der Zeitigung vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit (alle Ausgaben), §§ 65-71.

(4) Vgl. hierzu sowie vertiefend zur Gesamtthematik des Textes: Bernhard Casper, Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zur Verantwortung für den Anderen. In: Erfahrung – Geschichte – Identität. Zum Schnittpunkt von Philosophie und Theologie. Festschrift für Richard Schaeffler. Herausgegeben von M. Laarmann u. T. Trappe. Freiburg, Basel, Wien 1997. S. 363-373.

 

 

Literatur (Auswahl):

Emmanuel Lévinas:

-  Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Wiemer. Freiburg, München 1992.

-  Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg, München 1993.

-  Die Zeit und der Andere. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. Hamburg 1989.

-  Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Freiburg, München 1999.

-  Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München 1998.

-  Humanismus des anderen Menschen. Hamburg 1989.

 

 

Sekundärliteratur (Auswahl):

Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Freiburg 2002.

ders.: Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zur Verantwortung für den Anderen. In: Erfahrung – Geschichte – Identität. Zum Schnittpunkt von Philosophie und Theologie. Festschrift für Richard Schaeffler. Herausgegeben von M. Laarmann u. T. Trappe. Freiburg, Basel, Wien 1997. S. 363-373.

Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas’. In: ders., Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1976. S. 121-235.

ders.: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Aus dem Französischen von Reinold Werner. München 1999.

Krewani, Wolfgang Nikolaus: Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen. Freiburg, München 1992.

Stephan Strasser: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Lévinas’ Philosophie. Den Haag 1978.

Ludwig Wenzler: Menschsein vom Anderen her. In: E. Lévinas, Humanismus des anderen Menschen. Hamburg 1989. S. VII-XVII.

ders.: Zeit als Nähe des Abwesenden. Diachronie der Ethik und Diachronie der Sinnlichkeit nach Emmanuel Lévinas. In: E. Lévinas, Die Zeit und der Andere. Hamburg 1989. S. 67-92.

 

 

 

 

 

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