Ingo
Mickan
Übergehen zum Anderen des
Seins
Zum
Denken von Emmanuel Lévinas
Die folgenden Zeilen sind 1997/98 für ein interdisziplinäres
Seminar für Pädagogen und Religionsphilosophen, in welchem unter anderem auf das
Denken des bedeutenden französischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1905-1995)
eingegangen wurde, geschrieben worden. Sie waren vor allem gedacht für
Nichtphilosophierende (im akademisch strengen Sinne) als eine einführende
Skizzierung zentraler Problemfelder des lévinasschen Denkens, weniger als
Einführung in Leben und Werk. Daraus erklärt sich auch die auf thesenhafte
Vereinfachung, mitunter auf Zuspitzung philosophischer Grundfragen zielende
Sprache. Der Text ist vor allem Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Casper (Freiburg i. Br.),
einem der damaligen Seminarleiter, verpflichtet.
Ich selber bin eigentlich kein Lévinas-„Anhänger“, aber sein
Denken stellt für mich eine wesentliche Irritation klassischer Denkmuster dar,
die außerordentlich fruchtbar sein kann. Nach seiner Philosophie dürfte es bei
ihm auch gar keine Anhängerschaft im traditionellen Sinne mehr geben, wo der
Eine neben dem Anderen gleichsam marschiert. Hier kann es nur den fortgesetzten
Versuch einer Entsprechung in Form wiederholter verstehender Annäherungen geben,
in denen sich dieses Denken in seiner ununterbrochenen Insistenz auf einer im
„Grund“ unseres Existierens liegenden ursprünglichen Verantwortung für den
Anderen auch nicht einfach „aneignen“ lässt, sondern wesenhaft be-fremdend
bleibt.
(I)
Philosophische Forschung bewegt sich nicht allein in von unserer
alltäglichen Lebenspraxis gänzlich abgeschnittenen abstrakten und allgemeinen
Sphären. Vielmehr erfolgt in ihr die grundsätzliche Bearbeitung eines von
keiner anderen Wissenschaft thematisierbaren elementaren Forschungsfeldes, in
der die zumeist verdeckten Wesensfundamente des alltäglichen Lebens freigelegt
werden, um sie auch für eine Verwandlung unseres Menschsseins innerhalb der
Lebenspraxis fruchtbar werden zu lassen.
Zu den Grundfragen der Philosophie gehört seit ältester Zeit die
Wesensfrage nach der Wahrheit. Mit dieser Frage ist allerdings ein
fundamentales Problem verbunden: Wahrheit darf stets nur eine sein. Philosophie
trachtet nach dem unbedingten verum et unum. Wenn Wahrheit aber nur eine
sein soll, wie kann es dann aber das Eine und zumal das Andere
geben? Und inwiefern kann es den Einen und mit ihm den Anderen
geben? Muss nicht unter der Herrschaft des Einheitspostulats die Andersheit des
Anderen nur als beunruhigendes und störendes Fremdelement erscheinen, das
auszugrenzen und zu eliminieren ist?
Die Philosophie wird zu solchen Fragen gerade nach dem Deutschen
Idealismus gedrängt, dessen Selbstverständnis es gewesen ist, dass mit ihm
die Traditionen des europäischen Denkens durch eine einheitlich in sich
abgeschlossene Systematik zur Vollendung gelangt sind. Auch in den bei Karl Marx
entfalteten Grundfragen nach Geschichte und Gesellschaft wird mit der
ontologischen Überlieferung des Fragens nach dem einen, einzigen Sein
keineswegs gebrochen. In bewusstem Anschluss an den überlieferten
Einheitsgedanken führt Marx diese Tradition vielmehr fort und sucht sie zu
einer umfassenden globalen Realisierung voranzutreiben. Sind aber Geschichte
und Gesellschaft überhaupt einheitliche Phänomene? Dürfen wir ihre sich immer
wieder meldende Multiplizität systematisch einebnen, wie das in den einheitstotalitaristischen
Theorieentwürfen von Hegel und Marx geschehen ist? Kann und muss
es überhaupt einen vollständig widerspruchsfreien, einheitlichen und endgültigen
Sinnentwurf geben, in dessen Realisierung alles Multiple und Heterogene
nivelliert und ausgetilgt würde? Muss die Umsetzung eines solchen Sinnentwurfs,
der die lebendige Vielgestaltigkeit der menschlichen Existenz in
vereinheitlichende Schemata presst, am Ende nicht das ursprüngliche Wesen des
Menschen verfehlen und deformieren? Solche Fragen bestimmen die Landschaft, aus
der sich das Denken von Emmanuel Lévinas entwickelt.
(II)
Die europäische onto-theo-logische Tradition (1) sucht
den Gegensatz zwischen dem Einen und dem Vielen, welches wesenhaft anders als
das Eine ist, dergestalt zu synthetisieren, dass von ältester Zeit an dem Einen
der Vorrang vor dem Vielen zugesprochen wird. Das Viele muss im Einen, das
Andere im Selben aufgelöst werden. So wird Gott gedacht als das hen kai pan, als Eines und
Alles, aus welchem das vielfältige Seiende seine Herkunft hat und auf das alles
Geschaffene einheitlich ausgerichtet ist. Der Mensch kommt unter dem vielen,
auf das Eine zuströmenden Seienden als dasjenige Seiende vor, das durch
Vernunft (gr. nus, logos) von allem übrigen Seienden
unterschieden ist. Die Tradition fasst ihn als zoon logon echon (animal rationale), als durch Sprache, Vernunft
und durch Totalitätsverständnis ausgezeichnetes Lebewesen, welches das Ganze
denkend zu erfassen und zu durchdringen vermag, daher aber auch versucht ist,
es zu beherrschen.
Die Vernunft ist in sich durch ein wesenhaftes Streben nach
Macht bestimmt und trachtet nach steter Erweiterung ihrer Herrschaft über das
Ganze des Seienden, dessen Beherrschung dem Menschen durch das zunehmende
verstehende Eindringen in seine Gesetzlichkeiten ermöglicht ist. Die Macht der
Vernunft über das Ganze des Seienden erwächst aus umfassendem Wissen. So kommt
etwa in der ruhelosen Suche der positiven Wissenschaften nach dem einen,
einzigen Ansatz, durch den alles erklärt werden kann, im Entwurf eines
künftigen Zusammenschlusses aller positiv-wissenschaftlichen Einzelerkenntnisse
zu einer alles Seiende erfassenden Universalerkenntnis deutlich der Totalitätsanspruch
der Vernunft zum Ausdruck. Dieser Anspruch steht in der Tradition des die
abendländische Philosophie seit Parmenides durchherrschenden Gedankens des
einen, ungeteilten Seins, in welchem alle Vielheit und Andersheit aufgelöst
ist. Innerhalb der philosophischen Tradition strebt alles auf Einheit,
Einzigkeit und Selbigkeit zu, sie unterliegt gleichsam einem Zwang, auf das
Eine und Einzige zugehen zu müssen. Die ontotheologische Tradition sucht ein
utopisches Programm zu verwirklichen, dessen Ziel die Auflösung aller
Widersprüche, hierin aber die Austilgung alles Andersartigen umwillen der
Errichtung umfassender, schrankenloser Macht ist. Die innerhalb der
metaphysischen Tradition intendierte totale Verfügbarkeit über das Ganze des
Seienden würde den Menschen zuletzt an jene Stelle versetzen, welche
traditionell Gott zugesprochen wurde. Das Ziel des europäischen
ontotheologischen Programms kann daher darin gesehen werden, den Menschen
zuletzt die Stelle Gottes einnehmen zu lassen.
Eine umfassende Realisierung des einheitstotalitaristischen
Sinnentwurfs würde eine zunehmende Kontrolle und Verdrängung des Anderen in
seiner Andersheit einschließen und die menschliche Zivilisation zu einem
Zwangs- und Unterdrückungssystem machen, in dem eine freie Entfaltung des
Menschenwesens unmöglich würde. Allein in der zulassenden Begegnung mit dem
Anderen, der stets anders denkt, anders wahrnimmt, anderes weiß und uns
unausgesetzt in seinem Anderssein infrage stellt, kann sich zeigen, dass wir
keineswegs absolut über das Sein verfügen können und dass wir dies auch nicht
müssen.
(III)
Was verändert sich im Denken von René Descartes gegenüber dem bis
dahin überlieferten ontotheologischen Modell? Descartes war derjenige Denker,
der mit seiner Metaphysik des Selbstbewusstseins und der darin
vollzogenen Bestimmung der Wahrheit als Selbstgewissheit der Subjektivität
die heute in allen modernen Lebensbereichen mittelbar zum Ausdruck kommende neuzeitliche
Philosophie begründet hat (2). Mit ihm geschieht eine entscheidende
Umwälzung im Selbstverständnis des Menschen, der von nun an seine Gewichtung
innerhalb der Ordnung des Seienden verändert. Das Selbstbewusstsein in der
Struktur des ego cogito me
cogitare cogitatum wird zum fundamentum inconcussum, zum
unerschütterlichen Fundament für die menschliche Selbst- und Welterkenntnis.
Die Selbstgewissheit (certitudo)
des selbstbewussten Subjekts wird zum entscheidenden Wahrheitsgrund für
die Erste Philosophie (Metaphysik), auf dem ein Universum umfassenden Wissens
errichtet werden soll. Nicht mehr Gott ist, wie noch im Mittelalter, der
Ausgang des Philosophierens, sondern vielmehr der Mensch. Mit dieser
revolutionierenden Neugründung der Philosophie weicht Descartes jedoch nicht
von der grundsätzlichen Bewegungsrichtung der abendländischen Tradition ab. Vielmehr
ist er mit seiner Idee, auf dem Fundament der unerschütterlichen Selbstgewissheit
des Subjekts eine zweifelsfreie, auf Universalität und Totalität zielende
Welterkenntnis leisten zu wollen, nur einer der konsequentesten Vollstrecker des
im antiken Griechenland in Gang gesetzten ontotheologischen Programms.
Die von Descartes begründete Metaphysik des Selbstbewusstseins,
die sich im komplexen Geschichtsgang der neuzeitlichen Philosophie bis hin zu
Hegels Bestimmung der Unendlichkeit und Absolutheit der Subjektivität steigern
wird, sucht die Polarität zwischen dem Einen und dem Anderen in eine höhere
Einheit und Totalität aufzulösen. Sie betreibt in solchen
Synthetisierungsversuchen aber gerade die Ausgrenzung des Anderen als solchen,
der in seinem Anderssein jegliches, zumal ein bloß synthetisierendes einheitstotalitaristisches
Denken in Frage stellt. So wird im Gefolge des cartesischen Totalitätsentwurfs
und seiner Unterscheidung von res extensa
und res cogitans die zunehmende
Fixierung der Spaltung von Subjekt und Objekt, von Vernunft und Wirklichkeit,
von Mensch und Welt, daher auch der Spaltung von Seele und Leib betrieben.
Unsere wesenhafte Endlichkeit aber, die sich gerade in Sinnlichkeit und
Leiblichkeit bekundet, irritiert unausgesetzt die Einheitsdoktrin, welche diese
Momente diskriminiert. Hier wird deutlich, dass es sich bei der Idee einer
totalen Synthese aller Widersprüche um eine Utopie handelt, die den
grundlegenden, nicht überspringbaren Dimensionen unserer Endlichkeit, unserer
Zeitlichkeit und Sterblichkeit, damit aber gerade auch unserer Leiblichkeit und
Verwundbarkeit, nicht gerecht wird, sondern diese vielmehr verkürzt und
deformiert. Die absurde Konsequenz einer Verwirklichung des
einheitstotalitaristischen Entwurfs wäre eine Auflösung unserer menschlichen Identität,
die durch Sterblichkeit, Leiblichkeit und Andersheit bedingt bleibt. Erst im
Sicheinlassen auf die in der Tradition ausgegrenzten Wesensmomente kann sich
zeigen, dass es keinerlei Notwendigkeit gibt, dasjenige, was anders als die
Einheit ist, umwillen schrankenloser Macht zu diskreditieren, sondern dass es
vielmehr nötig wird, sich auf die Andersheit des Anderen einzulassen.
(IV)
Der Begriff des Anderen nach Lévinas meint nicht lediglich das
traditionelle aliquid, nicht das bloße Verschiedene (gr. heteron), das innerhalb traditionellen Totalitätsdenkens und
klassischer Identitätssysteme – oft genug nur als problematisches Fremdelement –
denkbar ist. Das sächlich Andere und der persönliche Andere müssen, und dies
ist innerhalb der klassischen Metaphysik keineswegs tiefgreifend genug
geschehen, grundsätzlich unterschieden werden. Die Begegnung mit dem Anderen
meint eine ganz einzigartige Beziehung,
deren eigentliche Bedeutung und Tragweite innerhalb der philosophischen Tradition
von Parmenides bis Heidegger immer übersehen und übersprungen wurde. Im
Sicheinlassen auf den Anderen als solchen werden die Schutzmechanismen des
Einheitstotalitarismus, welche die Andersheit des Anderen nivellieren, gebrochen.
Der enge Bezirk der im abstrakten Ich=Ich erstarrten Selbstidentität des
Subjekts wird zugunsten einer weiter gefassten und ursprünglicheren
Identitätsbestimmung verlassen. Während die Einheitsvorstellung immer eine
Projektion einschließen muss, in welcher der Mensch sich aufgrund seines
Totalitätsverständnisses an die Stelle des Einen versetzt und, jegliche
Andersheit verdrängend, autoritativ von dort her spricht, ist ein Zulassen des
Anderen dagegen nur möglich in Haltungen des Respektierens, des Hörens und
Wartens. Der Zugang zum Anderen öffnet sich nicht in einer aktiven, sondern
einzig in einer wesenhaft passiven
Haltung, einer ursprünglichen Passivität, wobei dieser
Passivitätsbegriff jedoch nicht einfach mit dem derivativen
vorphilosophisch-alltäglichen Begriff der Passivität gleichzusetzen ist.
Die den Zugang zum Anderen eröffnenden passiven Haltungen des
Zulassens und Respektierens, des Hörens und Wartens können als Weisen der Zeitigung
der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins gefasst werden (3). Der Mensch
vollzieht sein Dasein, indem er seine Zeit ist, sich zeitigt; das „Ich
bin“, das „Ich lebe“ vollzieht sich existenziell als ein Sichzeitigen.
Die Zeitigung ist wesenhaft endlich, was sich etwa in der Endlichkeit der Wahl
von Existenzmöglichkeiten bekundet. Die endliche Zeitigung des Menschen als
leibliches, sterbliches Seiendes ist Dasein zum Tode als „Aufschub des Todes“
(Lévinas). Endliche Zeitigung, Sterblichkeit, aber damit einhergehend auch
Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Verwundbarkeit charakterisieren die wesenhafte
Endlichkeit des Menschen, die ihm einen Spielraum endlicher Freiheit lässt, in
der sowohl das eigene Selbstsein als auch die Offenheit für den Anderen
ermöglicht sind.
Das Sein des Menschen vollzieht sich nach Lévinas nicht nur als
das Sichselbstzeitigen eines Seienden, dem es in seinem Sein immer nur um sein
Sein geht, sondern primär als Sichzeitigen durch den Anderen. In der
Begegnung mit dem Anderen geschieht eine Wesenskonfrontation
mit der Zeit des Anderen, die meine Zeit gleichsam stört und
irritiert. Das Verhältnis meiner Zeitlichkeit zu derjenigen des Anderen meint
kein synchrones, sondern ein diachrones Verhältnis. Die ursprüngliche
Beziehung zum Anderen ist kein bloß innerzeitliches Phänomen, sondern die
zeitigende Zeitlichkeit selbst. Im Gedanken der ständigen und untilgbaren
Störung meiner Zeit durch den Anderen entwickelt Lévinas ein neues
philosophisches Zeitverständnis. Mit der Vertiefung aller überkommenen, auch
der ursprünglicher ansetzenden Zeitbestimmungen Heideggers, zerbricht zugleich
das tradierte Verständnis von Sein, das den Bezug zum Anderen immer nur als
einen synchronen fassen kann. Im Denken der Diachronie zerbricht die klassische
Fixierung auf Substanzialität und Seinstotalität: In ihm wird das
Philosophieren nicht mehr von der Totalität des einen Seins her bestimmt,
sondern wandelt sich in das Denken des Anders als Sein oder Jenseits
des Seins.
Der Bezug zum Anderen ist von einer ursprünglichen Verantwortung
gekennzeichnet, die in fundamentalen ethischen Verpflichtungen zum Ausdruck
kommt, wie etwa: Ich darf den Anderen nicht töten, ich darf den Anderen in
seinem Sterben nicht allein lassen. Hierher gehört auch der lévinassche Begriff
der Geisel. Danach bürgt meine
Existenz wesenhaft für den Anderen. Diese ursprüngliche Geiselschaft, von der
Lévinas einmal gesagt hat, sie sei „vielleicht nur ein harter Name für Liebe“,
meint nicht Altruismus oder selbstdestruktives Sichaufopfern, da ich in der
Situation der Verantwortung dem Anderen gerade auch meinen natürlichen Egoismus
schuldig bin. Im Gedanken der Geiselschaft, der Erfahrung, dem Anderen
unbedingt verpflichtet zu sein, ihm helfen zu müssen, ohne selbst noch einmal
Macht ausüben zu können, liegt eine fundamentale Umkehrung der traditionellen,
von Substanzialität und Subjektivität bestimmten Machtstrukturen. Mit dem
Gedanken eines steten Verantwortlichseins, einer unbedingten Verpflichtung ist
nicht nur ein guter Wille im Sinne Kants, nicht ein synchrones Mitleiden und
auch kein freiwilliges Sichausliefern an den Anderen gemeint. Vielmehr werden
wir nach Lévinas gerade wider Willen und vor aller Verfügbarkeit als Geisel
genommen. Lévinas' Gedanke ist insofern radikal, als er gerade die
Unverfügbarkeit der prinzipiellen Geiselschaft betont. Wenn die Geisel nach dem
geläufigen Geiselbegriff zugunsten eines Dritten genommen wird, kann dies auch
auf den Geiselbegriff Lévinas’ angewandt werden: Ziel der ursprünglichen
Geiselschaft ist weder eine Selbstaufgabe für den Anderen noch die bloße
Befriedigung meiner Selbstsucht, sondern ein Drittes, letztlich eine
menschheitliche Perspektive.
Die den Bezug zum Anderen bestimmende Grundhaltung der
Passivität ist ausdrückbar im Akkusativ, das traditionell ontologisch bestimmte Ich
wandelt sich zu einem ethischen Sich.
Der Gedanke des ethischen Sich führt zur Neubestimmung von menschlicher Identität,
deren Wesen sich nun primär aus dem Moment der ursprünglichen, unverfügbaren
Verantwortung für den Anderen ergibt. Das Identitätsverständnis von Lévinas wird
nicht mehr von der Dimension eines Ich=Ich, sondern von vornherein vom Anderen
her bestimmt, der mich allererst in mein Eigenes einsetzt (4).
Im Denken von Lévinas’ stellt die ethische Dimension, das durch
ursprüngliche Verantwortung bestimmte Verhältnis zum Anderen, nicht nur
irgendein partielles Untersuchungsfeld dar, das eine Philosophie neben anderen
Feldern in ihre Systematik einordnen könnte. Vielmehr geht das Ethische wesenhaft
allen philosophisch thematisierbaren Bereichen voraus. Die traditionelle
Vorrangstellung von Ontologie wird verabschiedet und Ethik wird Erste
Philosophie.
In der ursprünglichen Begegnung mit dem Anderen als
Grunderfahrung des Durchbrechens meiner Synchronie, im identitätsstiftenden
diachronen Sichereignen als Einsetzen in die Verantwortung für den Anderen
geschieht der Einfall Gottes in meine Erfahrung. Diese Gotteserfahrung
erfolgt unabhängig von Zeit, sie meint die in der Verantwortung liegende
Erfahrung einer Anfangs- und Endlosigkeit, einer unvordenklichen Gewesenheit. Sie
ist wesenhaft unverfügbar, primär Widerfahrnis und Passivität. Im Einfall
Gottes in unser Denken als Erfahrung einer Vergangenheit, die älter als alle
Erinnerung ist, erblickt Lévinas das Moment der Unendlichkeit.
Wir können nicht konkret für alle Geisel sein, sind es aber
prinzipiell und müssen darunter leiden, dass wir nicht für alle Verantwortung
tragen können, sondern die Pflicht haben, auszuwählen. Mit diesem
Auswählenmüssen ist das grundsätzliche Problem der Endlichkeit unseres
Existierens angesprochen. Zur Verantwortung für den Anderen gehört gerade auch,
uns schützen zu müssen, aber eben nicht im Sinne einer bloß verhärtenden
Selbstpanzerung, die vor der Möglichkeit, die Spannung der Beziehung zum
Anderen zuzulassen und auszuhalten, ausweicht und sich in Egozentrik und Isolation
flüchtet. Das Sichschützen muss vielmehr in seinem Doppelaspekt des Bewahrens
sowohl des eigenen Selbstseins als auch der ursprünglichen Verantwortung für
den Anderen verstanden werden. Hierbei wird aber gerade die Endlichkeit des
Menschenwesens offenbar. Im Feld der Beziehung zum Anderen kann es keine
Befriedigung eines unendlichen Anspruchs geben, sondern vielmehr gilt es das
Sicheinlassen in die uns mit Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Sterblichkeit
überantwortete Endlichkeit aller Wesensstrukturen der menschlichen Existenz.
Anmerkungen
(1) Der Begriff der Onto-theo-logie geht auf Immanuel Kant zurück. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen
Vernunft, A 632, B 660. Besondere Bedeutung erlangte er allerdings bei Martin Heidegger,
der ihn zur Wesenskennzeichnung der bisherigen europäischen philosophischen
Tradition verwendete. Vgl. Martin Heidegger: Die onto-theo-logische Verfassung
der Metaphysik. In: M. Heidegger: Identität und Differenz. Stuttgart 1996. S.
31-67.
(2) Vgl. René Descartes, Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt
und herausgegeben von Gerhart Schmidt. Stuttgart 1986 (= RUB 2888).
(3) Zum Phänomen der Zeitigung vgl. Martin Heidegger: Sein und
Zeit (alle Ausgaben), §§ 65-71.
(4) Vgl. hierzu sowie vertiefend zur Gesamtthematik des Textes: Bernhard
Casper, Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zur Verantwortung für
den Anderen. In: Erfahrung – Geschichte – Identität. Zum Schnittpunkt von
Philosophie und Theologie. Festschrift für Richard Schaeffler. Herausgegeben
von M. Laarmann u. T. Trappe. Freiburg, Basel, Wien 1997. S. 363-373.
Literatur (Auswahl):
Emmanuel Lévinas:
- Jenseits des Seins oder
anders als Sein geschieht. Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Wiemer.
Freiburg, München 1992.
- Totalität und
Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übersetzt von Wolfgang Nikolaus
Krewani. Freiburg, München 1993.
- Die Zeit und der
Andere. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. Hamburg
1989.
- Wenn Gott ins Denken
einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Freiburg, München
1999.
- Die Spur des Anderen.
Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München
1998.
- Humanismus des anderen
Menschen. Hamburg 1989.
Sekundärliteratur (Auswahl):
Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Freiburg 2002.
ders.: Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zur
Verantwortung für den Anderen. In: Erfahrung – Geschichte – Identität. Zum
Schnittpunkt von Philosophie und Theologie. Festschrift für Richard Schaeffler.
Herausgegeben von M. Laarmann u. T. Trappe. Freiburg, Basel, Wien 1997. S.
363-373.
Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken
Emmanuel Lévinas’. In: ders., Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main
1976. S. 121-235.
ders.: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Aus dem
Französischen von Reinold Werner. München 1999.
Krewani, Wolfgang Nikolaus: Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen.
Freiburg, München 1992.
Stephan Strasser: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in
Emmanuel Lévinas’ Philosophie. Den Haag 1978.
Ludwig Wenzler: Menschsein vom Anderen her. In: E. Lévinas,
Humanismus des anderen Menschen. Hamburg 1989. S. VII-XVII.
ders.: Zeit als Nähe des Abwesenden. Diachronie der Ethik und
Diachronie der Sinnlichkeit nach Emmanuel Lévinas. In: E. Lévinas, Die Zeit und
der Andere. Hamburg
1989. S. 67-92.